Notate tagsüber...

– Abgeschriebenes und Aufgeschriebenes –
Ablage für Ungereimtheiten und Gereimtes:
Gedanken, Gedichte und Zitate

Tage mit Hähern

Der Häher wirft mir
die blaue Feder nicht zu.

In die Morgendämmerung kollern
die Eicheln seiner Schreie.
Ein bitteres Mehl, die Speise
des ganzen Tags.

Hinter dem roten Laub
hackt er mit hartem Schnabel
tagsüber die Nacht
aus Ästen und Baumfrüchten,
ein Tuch, das er über mich zieht.

Sein Flug gleicht dem Herzschlag.
Wo schläft er aber
und wem gleicht sein Schlaf?
Ungesehen liegt in der Finsternis
die Feder vor meinem Schuh.

– Günter Eich

In der Mitte des Sommers

Vollkommen ists
wie der Sommer sich über die Dämmerung beugt
an dünnen Ästen makellose Vogelbeeren
und außerhalb des Gewichts der Zeit
Der August so nah wie die Disteln am Weg
Die Tage um einen Fußbreit kürzer
Unter zerbrechlichem Stern bruchstückhafte Gespräche
Noch glauben wirs einander nicht dass aus dem nahen Dickicht
der Herbst tritt
Immerzu liegen die Bäume vor Anker in Wurzeln wie Glocken
Sicherheit überkommt
Und wunderschön das Überflüssigsein der Klage

– Jan Skacel

Manchmal

Manchmal, wenn ein Vogel ruft
oder ein Wind geht in den Zweigen
oder ein Hund bellt im fernsten Gehöft,
dann muss ich lange lauschen und schweigen.

Meine Seele flieht zurück,
bis wo vor tausend vergessenen Jahren
der Vogel und der wehende Wind
mir ähnlich und meine Brüder waren.

Meine Seele wird Baum
und ein Tier und ein Wolkenweben.
Verwandelt und fremd kehrt sie zurück
und fragt mich. Wie soll ich Antwort geben?

– Herrmann Hesse

Ebereschen

Wenn ich ein Stückchen Land besäße, ich würde mir ein kleines Wäldchen von Ebereschen pflanzen. Ein einziger der glühenden Bäume könnte schon das Glück eines Spätsommers ausmachen und verklären.
Ja, die Eberesche leuchtet in den Dezember hinein, täglich etwas dunkler werdend und zweighängerischer. Bis die letzte Koralle an der Dolde wartet auf die Schwarzdrossel, die sie aufpickt…

– Else Lasker-Schüler

Orangen

Ich, der ich in einem Baum aufgewachsen,
hätte mancherlei zu erzählen,
doch da ich viel erfuhr von der Stille,
habe ich mancherlei zu verschweigen,
und das lernt man indem man wächst
ohne einen anderen Genuss als das Wachsen,
ohne eine andere Sehnsucht als Substanz,
ohne ein anderes Tun als Unschuld,
und drinnen golden die Zeit,
bis die Höhe sie zu sich ruft,
um sie in Orangen zu verwandeln.

– Pablo Neruda

Getröstet

When I was a boy and I would see scary things in the news, my mother would say to me, “Look for the helpers. You will always find people who are helping.”
To this day, especially in times of ‘disaster’, I remember my mother’s words and I am always comforted by realizing that there are still so many helpers – so many caring people in this world.

– Fred Rogers

Spiel

Wenn Menschen aus der Funktionalisierung und Zweckmäßigkeit ihres Handelns herausfinden, fangen sie an zu spielen. Wenn sie zu spielen beginnen, fangen sie an, kreativ zu werden.
Es gibt keine Kreativität, die an die Funktionalität gekoppelt ist. Sobald ich einen bestimmten Zweck verfolge, bin ich nicht mehr frei in meinem Denken, dann kann ich auch nicht kreativ sein, sondern nur noch kombinieren. Für diese Art von Kombinationsleistungen lassen sich auch Maschinen programmieren.

– Gerald Hüter

Richtung

If you do not change direction
you may end up where you are heading.

– Lao Tsu

Schlüssel

Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel sind,
die uns gewisse Tore öffnen können.
Ich glaube, es gibt gewisse Tore,
die einzig die Krankheit öffnen kann.
Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand,
der es uns nicht erlaubt, alles zu verstehen.
Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten;
ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns davon weg,
so dass wir uns nicht mehr darum kümmern.
Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen,
noch keinen getroffen,
der nicht nach irgendeiner Seite beschränkt gewesen wäre –
wie solche, die nie gereist sind.

– André Gide

Vertrauen

Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.

Ich glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung sind, die wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten Gefühle nicht mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden, das bei uns eingetreten ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können.

Darum geht die Traurigkeit auch vorüber: das Neue in uns, das Hinzugekommene, ist in unser Herz eingetreten, ist in seine innerste Kammer gegangen und ist auch dort nicht mehr, – ist schon im Blut. Und wir erfahren nicht, was es war. Man könnte uns leicht glauben machen, es sei nichts geschehen, und doch haben wir uns verwandelt, wie ein Haus sich verwandelt, in welches ein Gast eingetreten ist. Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht.

Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht. Je stiller, geduldiger und offener wir als Traurige sind, um so tiefer und um so unbeirrter geht das Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser Schicksal sein, und wir werden uns ihm, wenn es eines späteren Tages «geschieht» (das heißt: aus uns heraus zu den anderen tritt), im Innersten verwandt und nahe fühlen. Und das ist nötig. Es ist nötig und dahin wird nach und nach unsere Entwicklung gehen -, daß uns nichts Fremdes widerfahre, sondern nur das, was uns seit lange gehört.

– Rainer Maria Rilke

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