Notate tagsüber...

– Abgeschriebenes und Aufgeschriebenes –
Ablage für Ungereimtheiten und Gereimtes:
Gedanken, Gedichte und Zitate

Yggdrasil

Eine Esche weiß ich stehen, heißt Yggdrasil,
Den hohen Stamm netzt weißer Schaum;
Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt.
Immergrün steht er über Urds Brunnen.

Davon kommen Frauen, vielwissende,
Drei aus dem See dort bei dem Stamm:
Urd heißt die eine, die andre Werdandi;
Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose, das Leben bestimmten sie
Den Menschengeschlechtern, das Schicksal verkündend.

Drei Wurzeln strecken sich nach dreien Seiten
Unter der Esche Yggdrasil:
Hel wohnt unter einer, unter der andern Hrimthursen,
Aber unter der dritten Menschen.

Ratatösk heißt das Eichhorn, das auf und ab rennt
An der Esche Yggdrasil:
Des Adlers Worte oben vernimmt es
Und bringt sie Nidhöggern nieder.

Der Hirsche sind vier, die mit krummem Halse
An der Esche Wurzeln weiden.

Mehr Würme liegen unter den Wurzeln der Esche,
Als einer meint der unklugen Affen.

Die Esche Yggdrasil duldet Unbill
Mehr, als Menschen wissen.
Der Hirsch weidet oben, hohl wird die Seite,
Unten nagt Nidhöggr.

Swalin heißt der Schild, der vor der Sonne steht,
Der glänzenden Gottheit.
Brandung und Berge verbrennten gewiss,
Sänk‘ er von seiner Stelle.

Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen,
Aus dem Schweiße die See,
Aus dem Gebein die Berge, die Bäume aus dem Haar,
Aus der Hirnschale der Himmel.

Aus den Augenbrauen schufen güt’ge Asen
Midgard den Menschensöhnen;
Aber aus seinem Hirn sind alle hartgemuten
Wolken erschaffen worden.

Ullers Gunst hat und aller Götter,
Wer zuerst die Lohe löscht,
Denn die Aussicht öffnet sich den Asensöhnen,
Wenn der Kessel vom Feuer kommt.

– Lieder Edda

Ask und Embla

Als Börs Söhne, Odin, Wili und We, am Seestrand gingen, fanden sie zwei Bäume. Sie nahmen die Bäume und schufen Menschen daraus. Der erste gab Geist und Leben, der andere Verstand und Bewegung, der dritte Antlitz, Sprache, Gehör und Gesicht.

Sie gaben ihnen auch Kleider und Namen: den Mann nannten sie Ask, das heißt Esche, und die Frau Embla, das heißt Erle, und von ihnen kommt das Menschengeschlecht, welchem Midgard zur Wohnung verliehen ward.
Danach bauten sie sich eine Burg mitten in der Welt und nannten sie Asgard. Da wohnten die Götter und ihr Geschlecht, und manches Abenteuer trug sich da zu, davon erzählt wird auf Erden und in den Lüften. In der Burg ist ein Ort, der Hlidskialf heißt, und wenn Odin sich da auf den Thron setzt, so übersieht er alle Welten und aller Menschen Tun und weiß alle Dinge, die da geschehen. Seine Hausfrau heißt Frigg, Fjörgwins Tochter, und von ihrem Geschlecht ist der Stamm entsprungen, den wir das Asengeschlecht nennen, welches das alte Asgard bewohnte und die Reiche, die dazugehören, und das ist das Geschlecht der Götter. Und darum mag er Allvater heißen, weil er der Vater ist aller Götter und Menschen und alles dessen, was er durch seine Kraft hervorgebracht hat. Jörd, das ist die Erde. Sie war seine Tochter und seine Frau, und von ihr gewann er einen erstgeborenen Sohn: Thor; ihm folgen Kraft und Stärke, dass er siegt über alles Lebendige. Er ist der Gott des Donners und des Blitzes, des Wetters und der Ernte. Er schützt die Menschen.

– Prosa Edda

Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

– Herrmann Hesse

Birkenlegendchen

Birke, du schwankende, schlanke,
wiegend am blassgrünen Hag,
lieblicher Gottesgedanke
vom dritten Schöpfungstag

Gott stand und formte der Pflanzen
endlos wuchernd Geschlecht,
schuf die Eschen zu Lanzen,
Weiden zum Schildegeflecht.

Gott schuf die Nessel zum Leide,
Alraunenwurzeln zum Scherz,
Gott schuf die Rebe zur Freude,
Gott schuf die Distel zum Schmerz.

Mitten in Arbeit und Plage
hat er ganz leise gelacht,
als an den sechsten der Tage,
als er an Eva gedacht.

Sinnend in göttlichen Träumen
gab seine Schöpfergewalt
von den mannhaften Bäumen
einem die Mädchengestalt.

Göttliche Hände im Spiele
lockten ihr blonden das Haar,
daß ihre Haut ihm gefiele,
seiden und schimmernd sie war.

Biegt sie und schmiegt sie im Winde
fröhlich der Zweigelein Schwarm,
wiegt sie, als liegt ihr ein Kinde
frühlingsglückselig im Arm.

Birke, du mädchenhaft schlanke,
schwankend am grünenden Hag,
lieblicher Gottesgedanke
vom dritten Schöpfungstag!

– Börries von Münchhausen

Die Häherfeder

Ich bin, wo der Eichelhäher
zwischen den Zweigen streicht,
einem Geheimnis näher,
das nicht ins Bewußtsein reicht.

Es preßt mir Herz und Lunge,
nimmt jäh mir den Atem fort,
es liegt mir auf der Zunge,
doch gibt es dafür kein Wort.

Ich weiß nicht, welches der Dinge
oder ob es der Wind enthält.
Das Rauschen der Vogelschwinge,
begreift es den Sinn der Welt?

Der Häher warf seine blaue
Feder in den Sand.
Sie liegt wie eine schlaue
Antwort in meiner Hand.

– Günter Eich

Ende eines Sommers

Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!

Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben!
Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich,
während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht.

Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an.
Er mißt seinen Teil von Ewigkeit gelassen ab.
Seine Strecken
werden sichtbar im Blattwerk als dunkler Zwang,
die Bewegung der Flügel färbt die Früchte.

Es heißt Geduld haben.
Bald wird die Vogelschrift entsiegelt,
unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken.

– Günter Eich

Moos

Hast du schon jemals Moos gesehen?
nicht bloß
so im Vorübergehen,
so nebenbei von obenher,
so ungefähr –
nein, dicht vor Augen, hingekniet,
wie man sich eine Schrift besieht?
O Wunderschrift! O Zauberzeichen!
Da wächst ein Urwald ohnegleichen
und wuchert wild und wunderbar
im Tannendunkel Jahr für Jahr,
mit krausen Fransen, spitzen Hütchen,
mit silbernen Trompetentütchen,
mit wirren Zweigen, krummen Stöckchen,
mit Sammethärchen, Blütenglöckchen,
und wächst so klein und ungesehen –
ein Hümpel Moos.
Und riesengroß
die Bäume stehen …

Doch manchmal kommt es wohl auch vor,
daß sich ein Reh hierher verlor,
sich unter diese Zweige bückt,
ins Moos die spitzen Füße drückt,
und daß ein Has‘ vom Fuchs gehetzt,
dies Moos mit seinem Blute netzt …
Und schnaufend kriecht vielleicht hier auch
ein sammetweicher Igelbauch,
indes der Ameis‘ Karawanen
sich unentwegt durchs Dickicht bahnen.
Ein Wiesel pfeift – ein Sprung und Stoß –
und kalt und groß
gleitet die Schlange durch das Moos …
Wer weiß, was alles hier geschieht,
was nur das Moos im Dunkeln sieht:
Gier, Liebesbrunst und Meuchelmord –
kein Wort verrät das Moos.
Und riesengroß die Bäume stehen –
Hast du schon jemals Moos gesehen?

– Siegfried von Vegesack

Baumbewußtsein

Ich betrachte einen Baum.

Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts oder das spritzende Gegrün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen.

Ich kann ihn als Bewegung verspüren: das flutende Geäder am haftenden und strebenden Kern, Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter, unendlicher Verkehr mit Erde und Luft – und das dunkle Wachsen selber.

Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten, auf Bau und Lebensweise.

Ich kann seine Diesmaligkeit und Geformtheit so hart überwinden, dass ich ihn nur noch als Ausdruck des Ganzen erkenne – der Gesetze, nach denen ein stetes Gegeneinander von Kräften sich stetig schlichtet, oder der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen.

Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen und verewigen. In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und Beschaffenheit.

Es kann aber auch geschehen, aus Willen und Gnade in einem, dass ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein Es mehr. Die Macht der Ausschließlichkeit hat mich ergriffen.

Dazu tut nicht not, dass ich auf irgendeine der Weisen meiner Betrachtung verzichte. Es gibt nichts, wovon ich absehen müsste, um zu sehen, und kein Wissen, das ich vergessen hätte. Vielmehr ist alles Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und Zahl, mit darin, ununterscheidbar vereinigt.

Alles, was dem Baum zugehört, ist mit darin, seine Form und seine Mechanik, seine Farben und seine Chemie, seine Unterredung mit den Elementen und seine Unterredung mit den Gestirnen, und alles in einer Ganzheit.

Kein Eindruck ist der Baum, kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungswert, sondern er lebt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders.

Man suche den Sinn der Beziehung nicht zu entkräften: Beziehung ist Gegenseitigkeit.
So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unsern ähnlich? Ich erfahre es nicht. Aber wollt ihr wieder, weil es euch an euch geglückt scheint, das Unzerlegbare zerlegen? Mir begegnet keine Seele des Baumes und keine Dryade, sondern er selber.

– Martin Buber

Die Stille der Bäume

Überall und ehe die Welt endlich laisiert wurde, zu allen Zeiten sind Bäume verehrt worden. Das ist nicht erstaunlich. Der Baum ist ein äußerst numinoses Wesen. Aus dem Stamm erhebt sich eine Fontäne des Lebens, verteilt sich in die Zweige, zerstäubt in einem Sprühen von Blättern und Blüten und Früchten. Mit einer langsamen, stillen Kraft graben sich die Wurzeln in die Erde. Zärtlich, doch unwiderstehlich kämpft das Leben mit den leblosen Steinen und obsiegt.

Halbverborgen in der Dunkelheit, halb ausgestellt in der Luft unter dem Himmel, steht der Baum dort, großartig, ein manifester Gott. Selbst noch heute spüren wir da Majestät und Schönheit – und spüren unter gewissen Voraussetzungen seine Fürchten lehrende Qualität des Andersseins, der Fremdartigkeit.

Allein in einem Wald, erfährt man, was Stille ist – die dicke, zähflüssige, lebendige Stille der Bäume.

– Aldous Huxley

Schöpfungsmythos der Jakuten

An einem zentralen Punkt, dem Nabel der Welt, an dem der Mond und die Sonne nie untergehen, an dem immer Sommer ist und der Kuckuck ständig ruft, findet sich der Helle Jüngling. Er findet sich, das heißt: er erwacht zu Bewusstsein.
Hier gibt es einen Baum, dessen Harz durchsichtig ist und süß duftet; seine Borke vertrocknet nie und hat keine Risse, die Blätter sterben nie ab, sanftes Licht dringt durch das Blattwerk. Die Zweige dieses Baumes durchstoßen das Himmelsgewölbe. Seine Spitze ist das Zentrum des höchsten Gottes. Seine Wurzeln reichen bis in die Unterwelt und werden dort zu Stützpfeilern, auf denen mythische Wesen ruhen. Mit dem Rauschen seiner Blätter unterhält sich der Baum mit den Geistern der Himmelswelt.

Der Stamm des Baumes öffnet sich und heraus tritt die Weiße Göttin. Der Helle Jüngling redet sie an und beklagt sich, dass er allein ist. Er will seine Stärke mit anderen messen. Er bittet um einen Gefährten oder eine Gefährtin.

Von der Baumgöttin erfährt er, dass sie die Mutter aller Dinge und der Himmelsgott sein Vater ist. Daraufhin schöpft sie zwischen den Wurzeln des Baumes Wasser und übergibt es dem Jüngling in einer Blase. Sie fordert ihn auf, das Wasser unter seinem rechten Arm zu verwahren. Es wird ihn erretten, wenn er in Not kommt.
Schließlich segnet ihn die Göttin und säugt ihn an ihren üppigen Brüsten. Der Jüngling spürt, wie sich seine Kraft verneunfacht.

In der Nachbarschaft des Baumes entdeckt er einen Milchsee mit Sümpfen aus geronnener Milch an den Ufern. Es ist die Milch der höchsten Gottheit selbst, die den See speist: die für die Erhaltung des Lebens wesentliche Flüssigkeit! Sie ist das Himmelselixier, das den Göttern zur Unsterblichkeit verhilft. Und es ist jene flüssige Grundsubstanz, aus der sich Wasser, Blut, Samen, Milch und die Säfte der Pflanzen aufbauen – der Stoff, der die Regeneration des Lebens im Kosmos sicherstellt.

– Frederik Hetmann

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